Inklusive Schulen entwickeln - Impulse für die Praxis

von: Tobias Bernasconi, Ursula Böing

Verlag Julius Klinkhardt, 2017

ISBN: 9783781555990 , 258 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,90 EUR

Mehr zum Inhalt

Inklusive Schulen entwickeln - Impulse für die Praxis


 

Tobias Bernasconi und Ursula Böing
Widersprüche und Ungewissheit – Herausforderungen für an Inklusion orientierte Schulen (s. 31-32)

Zusammenfassung: Der Beitrag beschreibt widersprüchliche Anforderungen, die sich im Kontext inklusiver Schulentwicklung für Lehrpersonen ergeben. Dabei werden als zentrale Widersprüche (1) die Problematik von Inklusion in ein an Selektion und Allokation ausgerichtetes Bildungssystem und (2) das Spannungsfeld von anzuerkennender Diversität einerseits und notwendiger spezialisierter und individueller Unterstützung andererseits diskutiert. Gerahmt werden diese Ausführungen von einleitenden und für das Verständnis grundlegenden Bemerkungen zu Inklusion und Behinderung und von abschließenden Skizzen zur Bedeutung der Anerkennung von Ungewissheit in diesem Prozess.

1 Einführung

Mit der Ratifizierung der UN-BRK haben sich die unterzeichnenden Staaten u.a. verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem zu schaffen (vgl. BGBL 2008). Zu dessen Erfüllung sind innerhalb der jeweiligen Bildungssysteme umfangreiche Reformen einzuleiten, die insbesondere in Unterzeichnerländern, die traditionell ein differenziertes, hierarchisch selektiv organisiertes Schulsystem aufgebaut haben, zu einer Erschütterung tradierter, tief verwurzelter institutioneller Strukturen und historisch gewachsener professioneller Ansprüche führen können (vgl. Blanck u.a. 2013).

Aktuell zeigen sich insofern in diesen Ländern auf verschiedenen Ebenen und durch unterschiedliche Akteure initiierte Beharrungstendenzen (vgl. ebd.), durch die der beobachtbare Reformprozess weniger als Transformationsprozess, sondern eher als schrittweise, pfadabhängige Veränderung (vgl. ebd.) bezeichnet werden kann.

Dieser schrittweise Wandlungsprozess wird flankiert von widersprüchlichen Anforderungen und Ambivalenzen, die auf seiner Kehrseite aufscheinen. Sie verdichten sich in der Frage, inwiefern der Anspruch, der sich aus der UN-BRK und der in ihr formulierten Forderung - dem Recht auf wirkliche Teilhabe, auf die dafür bereitzustellende notwendige Unterstützung und auf Nicht-Diskriminierung - innerhalb eines Schulsystems, welches an Selektion und Allokation ausgerichtet ist, überhaupt eingelöst werden kann. Letztendlich verbindet sich mit der Anerkennung der UN-BRK die Frage nach der Legitimitätsgrundlage des hierarchisch gegliederten Schulsystems und der Funktion von Schule (vgl. Powell 2011).

Diese mit inklusiver Schulentwicklung verbundenen Spannungsfelder, die im aktuell beobachtbaren bildungspolitischen und gesellschaftlichen Diskurs eher unsichtbar bleiben (vgl. Kluge u.a. 2015, 11), werden in jüngerer Zeit in Teilen des wissenschaftlichen Diskurses theoretisch und empirisch in den Blick genommen (vgl. z.B. Tervooren u.a. 2014; Häcker & Walm 2015; Sturm & Wagner-Willi 2015; Sturm u.a. 2016; Böing & Köpfer 2016), um sie zu identifizieren und einer Bearbeitung zugänglich zu machen.

2 Inklusion und Behinderung Die Diskussion über und das Verständnis von Inklusion ist in den verschiedenen Diskursen mit sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Bedeutungen aufgeladen. In vielen (bildungspolitischen) Veröffentlichungen wird Inklusion so z.B. gleichgesetzt mit der Möglichkeit der Unterrichtung von Schülerinnen und Schülern mit zugewiesenem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in allgemeinen Schulen (vgl. u.a. MSB NRW 2015). Die damit häufig verbundene Rede von ‚Inklusionskindern‘ oder ‚Inklusionsquoten‘ suggeriert, dass hierbei (1) zwischen Kindern und Jugendlichen mit zugewiesenem Förderbedarf differenziert werden könne, so als würde es Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf geben, die den Status ‚Inklusionskind‘ erhalten und solche, die diesen Status nicht erhalten und somit – quasi als ‚Nicht-Inklusionskinder‘ – in den nach wie vor bereitgestellten Fördersystemen verbleiben. Zweitens impliziert die Rede über sog. Inklusionsquoten die Annahme, als ginge es im Prozess inklusiver Schulentwicklung darum, eine stetig wachsende Population von als mit Förderbedarf attestierten Schülerinnen und Schülern in das allgemeine Schulsystem aufzunehmen. Beide Termini binden den ‚Erfolg‘ inklusiver Schulentwicklung an die jeweiligen Kinder und Jugendlichen mit zugewiesenem Förderbedarf. Ein derart verwendeter Inklusionsbegriff gibt vor, dass Inklusion ein zu erreichender Zustand sei, lediglich abhängig von der Zahl der ‚inkludierten‘ Kinder und Jugendlichen. Folgt man dieser, auf den jeweiligen Schüler oder die Schülerin bezogene, Argumentation so mündet diese – fast zwangsläufig – in einer Dichotomisierung von sog. ‚inkludierbaren‘ und ‚nicht-inkludierbaren‘ Kindern und Jugendlichen (vgl. u.a. Poscher u.a. 2008, 22ff.), wobei Letztere als ‚Inklusionsverlierer‘ (vgl. Schäper 2015, 81) aus dem Allgemeinen Schulsystem ausgeschlossen bleiben.